Wir waren mal wieder irgendwohin unterwegs. Tara, Jim und ich im Auto. Tara geht noch in den Kindergarten und Jim ist in der ersten Klasse. Seit den Herbstferien bin ich eine „Lesemama“ und daher eine Stunde die Woche in der Schule. Hier lese ich mit den einzelnen Kindern. Dabei lerne ich sie ein Stück kennen, kann ermutigen und sie in ihrem Lernen ein Stück begleiten. Ich liebe Worte und ich liebe Menschen: Eine gute Kombination und erfolgreicher, als wenn ich aufgefordert werde, Laternen zu basteln…:-)
Mein Sohn ist nicht mit in meiner Lesegruppe. Ist wahrscheinlich auch besser so. Sein Lesen bekomme ich ja zu Hause mit. Und da wird dann auch mal missmutig das Buch auf den Boden geschmissen oder lautstark verkündet: „Ich kann das nicht! Das ist so schwer!“ An guten Tagen ermutige ich und bin geduldig… an schlechten Tagen versuche ich es auszuhalten … und an ganz schlechten Tagen motz ich manchmal einfach zurück und wir versinken beide im Rummeckern und Bücher auf den Boden schmeissen. So oft wünschte ich, er hätte seine Emotionen besser im Griff (und ich bitte auch) und er würde manche Dinge leichter sehen (und ich auch). Ich erkenne soviel von meinen eigenen Kämpfen in diesem kleinen Jungen und erinnere mich schmerzhaft daran zurück. Wenn ein Mensch dir so nah und dazu noch so ähnlich ist, wird’s manchmal richtig interessant im Alltag!
An diesem Tag im Auto kommen wir also wieder einmal über das Lesen ins Gespräch. „Mama, weisst du,“ meint er ein wenig stolz, “ wenn ich in der Schule lese, dann raste ich gar nicht aus.“
Ich gucke in den Rückspiegel und meine nur: „Na, das ist doch gut!“
Und ich finde es wirklich gut, denn ich möchte ja, dass er sich benimmt in der Schule, dass er lernt, seine Gefühle zu kontrollieren. Naja, halt das ganze Zeug, was sich die meisten Eltern wohl wünschen.
Während mein Sohn aus dem Fenster schaut, werfe ich kurz ein: „Und warum klappt das zu Hause nicht? Warum rastest du da so oft aus?“ Ich will es wirklich wissen. Möchte wissen, was ich tun kann, damit unser Alltag mit Lesen und Lernen einfacher wird.
Er muss nicht lange überlegen, während er immer noch aus dem Fenster schaut. „Weil ich es da darf.“
Bääähms!! Dieser Satz trifft mich wie nichts anderes an diesem Tag. Ich muss mich zwingen auf die Strasse zu achten und mich konzentrieren, während sich eine Träne den Weg über meine Wange bahnt. Darauf war ich nicht vorbereitet!
„Weil er es da darf.“ Das ist glaub ich das schönste Kompliment, das ich seit langem erhalten habe. Er nennt unser Zuhause einen Ort, wo er einfach mal sein darf, wie er ist. Und alles Negative, was sich angestaut hat, rauslassen kann und, dass Menschen da sind, die es aushalten. Die es zulassen, dass es laut zu geht und die auch dann bleiben, wenn man sich nicht verändert und es immer und immer wieder schwierig ist.
Ich glaube nicht, dass Geduld meine größte Stärke ist. Leider versage ich da zu oft. Aber ich will immer mehr lernen, Entschuldigung zu sagen und es beim nächsten Mal besser machen.
Dabei geht es bei uns meist ziemlich laut zu – besonders, wenn mein Sohn und ich gleichzeitig keine gute Laune haben oder es nicht so läuft wie ich es mir gerade wünsche. Und trotz all dem was wir als Familie nicht können, haben wir einen Ort schaffen können, wo jeder einfach mal sein kann wie er ist. Ich weiss noch nicht so ganz genau, wie wir das geschafft haben?!
Ich sehe das als ein absolutes Geschenk an und bin dankbar, dass das bei uns so sein kann.
Wie sehr brauchen wir einen Ort, Menschen, Familie, Freundschaften wo wir sein dürfen wie wir sind. Ganz ungeschminkt, ungefiltert und schutzlos ehrlich.
Diese Art von Ehrlichkeit ist nicht immer schön – sonst würden wir es ja nicht so gerne verstecken. Aber es ist ja trotzdem da und muss irgendwann raus, wie bei einem Kind der Frust beim Lesen. Wir brauchen selbst einen Ort wo wir einmal laut schreien dürfen, unser Fehlverhalten darlegen und es ansprechen ohne Verurteilung oder Schweigen zu erhalten. Da wo wir den Rotz des Lebens hinschmeissen, wird es oft nicht schön. Es verändert sich auch meist nicht alles – es schafft aber einen Ort, den wir Heimat nennen können.
Wir können einander genau diese Orte schaffen.
Ein Ort, der Barmherzigkeit und offene Arme anbietet.
Ein Ort, der an sich schon nicht so perfekt ist, dass andere gerne dorthin kommen.
Wir können mehr für einander beten und uns weniger verurteilen. Mehr schweigen und trösten als reden und reden.
Und manchmal, wenn es dann alles wieder zu laut ist in unserem Leben und das Fehlverhalten eines anderen oder das eigene auffällt und nervt, dann will ich mich an dieses Gespräch im Auto erinnern. Dieses kleine Dankeschön eines ziemlich ehrlichen Kindes.